Podiumsdiskussion an der Jahreskonferenz der RK MZF

An der Podiumsdiskussion, die während der Jahreskonferenz der RK MZF im Mai 2024 in Zermatt stattgefunden hatte, führt der Moderator, PD Dr. Alexander Krethlow, ein, dass die RK MZF traditionellerweise ihren Blick auch über die Landesgrenzen richte, um zu sehen, wie unsere Nachbarn die sicherheitspolitischen Herausforderungen angehen. In Deutschland beispielsweise bestehe nach wie vor das Konzept der «Gesamtverteidigung». Unter diesem Begriff werden dort die beiden Bereiche «zivile Verteidigung» und «militärische Verteidigung» subsummiert. So diene der neue «Operationsplan Deutschland» der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit. Die Bundeswehr habe erkannt, dass sie heute verstärkt auf zivile Hilfe angewiesen sei.

Dr. Katja Gentinetta, die sich mit den Konzeptionen schweizerischer Sicherheitspolitik auseinandersetzt, meint auf Krethlows Frage, wo sie die grössten Herausforderungen für die Schweiz im Hinblick auf eine eventuelle «neue Gesamtverteidigung» sehe, dass die Armee noch stärker auch hybride Bedrohungen einbeziehen müsse. Dabei nennt sie den Begriff des «Resistance Operating Concept» (ROC). Dieses zeige Massnahmen auf, die ein Staat ergreifen könne, um sich in einem Konflikt gegen einen teilweisen oder vollständigen Verlust seiner nationalen Souveränität vorzubereiten. ROC werde heute in der Ukraine angewendet. Dabei betont Gentinetta, dass es sich bei der Schweizer «Gesamtverteidigung» grundsätzlich nicht um ein veraltetes Konzept handle. Sie stellt indes in der Schweiz drei bedeutende Hürden fest: erstens faktische Hürden (Material, Technologie, Finanzierung), zweitens mentale Hürden (die Vorstellung, dass uns die Neutralität auch im nächsten Krieg schützen oder die Einschätzung, dass uns schon nichts passieren werde) und, drittens, diskursive Hürden (die Elite ist sich nicht einig über die Bedrohungssituation, stellt Parteiideologie über die Realität). Gentinetta fordert daher von jenen, die vom Ernst der Lage überzeugt sind, deutlich mehr Überzeugungsarbeit zu leisten, damit sich die gesamte Bevölkerung an der «Neuen Gesamtverteidigung» beteilige (für die im Übrigen im internationalen Diskurs auch die Schweiz ein Vorbild sei). Estland bzw. die Estnische Verteidigungsliga (16’000 Freiwillige, mit gesetzlichem Auftrag, dem Verteidigungsministerium unterstellt), so Gentinetta, wäre ein Beispiel, das man sich ansehen kann.

Auf Krethlows Frage, ob im Kriegsfall die Partnerorganisationen des Bevölkerungsschutzes (Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technische Betriebe, Zivilschutz) die Armee unterstützen müssten, antwortet der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, dass die heutige Bedrohungslage eine «Umfassende Verteidigung» verlange. Diese charakterisiere sich durch Antizipation, Vorbereitung, Resilienz, Information, Cyberabwehr und erst zuletzt durch eine klassische militärische Verteidigung. Daher sollten Süssli zufolge von Beginn an alle Akteure eng zusammenarbeiten. Geht es um die Abwehr eines militärischen Angriffs, dann müssen auch die zivilen Mittel in die Verteidigung einbezogen werden.

Krethlow stellt fest, dass sich die Armee wieder auf den Kriegsfall ausrichtet. Er folgert daraus, dass, um kein Ungleichgewicht entstehen zu lassen, auch der Bevölkerungsschutz in diesem Bereich wieder aktiver werden müsse. Eine Forderung, die zu einer «Neuen Gesamtverteidigung» führen solle.

Die Direktorin des BABS, Dr. Michaela Schärer, bestätigt, dass sich der Bevölkerungsschutz bisher auf die Bewältigung von Katastrophen und Notlagen fokussiert. Diese Fähigkeiten seien auch im Krieg nützlich. Da sich die Armee wieder auf die Verteidigung konzentriert, dürfe deren bisherige Unterstützung für die Zivilen in Zukunft geringer ausfallen. Eine glaubwürdige zivil-militärische-Zusammenarbeit funktioniere jedoch nur dann, so Schärer, wenn die Bevölkerung geschützt sei. Daher brauche der Bevölkerungsschutz zusätzliche operative Fähigkeiten, mehr Eigenständigkeit und Durchhaltefähigkeit. Zu diesem Zweck habe das BABS 13 Handlungsfelder definiert. Dazu zählen die Aufgabenteilung zwischen Armee und Zivilschutz oder die Art und Weise, wie der Bund den Zivilschutz im Krieg führen soll. Diese und weitere Aspekte seien aus der Perspektive einer «Gesamtverteidigung» zu betrachten.

Der Bündner Regierungsrat Martin Bühler betont, dass die Schweizer Bevölkerung, was ihre mentale Bereitschaft betrifft, in keiner Weise für die Bewältigung eines bewaffneten Konflikts vorbereitet sei. Zwar bestehen Grundkonzepte bei der Armee und den Behörden und Organisationen für Rettung und Sicherheit (BORS). Zudem sei die Schweiz ein Übungsland, in dem auf hohem Niveau gemeinsam trainiert werde. Doch damit das Gesamtsystem funktionieren könne, brauche es Konzepte und Regeln, die aufzeigen, wer, was und wann im Verteidigungsfall zu tun habe. In dieser Hinsicht sei noch Einiges zu klären. Insbesondere, bevor grosse Volltruppenübungen durchgeführt werden können.

Zum verstärkten Zusammenwirken von Armee und Bevölkerungsschutz im Bereich der Landesverteidigung meint Staatssekretär Dr. Markus Mäder, dass vom Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (SEPOS) zurzeit die Grundlagen für eine «Sicherheitspolitische Strategie 2025» erarbeitet werden. Er betont, dass sämtliche sicherheitspolitischen Instrumente sich für das Szenario einer weiteren Eskalation des Krieges in Europa aufstellen und vorbereiten müssen. In denjenigen Kreisen, die sich von Berufes wegen mit Sicherheitspolitik beschäftigten, sei die neue Bedrohungslage angekommen. In breiteren Teilen der Gesellschaft jedoch gebe es noch Bedarf für Bewusstseinsbildung. Für sämtliche Akteure gelte es in jedem Fall, noch widerstandsfähiger zu werden. Zum Begriff der «Gesamtverteidigung» meint Mäder, dass im SEPOS eine gewisse Skepsis vorherrsche. Der Begriff stehe für das Konzept einer vergangenen Epoche. Die Rahmenbedingungen hätten sich seither jedoch geändert, weshalb dem konzeptionellen Denken keine Schranken durch die Begrifflichkeit aus dem Kalten Krieg gesetzt werden sollten. Die Bedrohung sei dynamischer, vielfältiger und diffuser geworden, auch seien neue Wirkungsräume und Handlungsfelder entstanden. Letztlich gehe es um ein umfassendes Zusammenwirken sämtlicher sicherheitspolitischer Instrumente zur Verteidigung der Schweiz in allen Lagen, von hybrider Beeinflussung bis hin zu den direkten Auswirkungen kriegerischer Ereignisse. Welcher Begriff dafür die Klammer bilden soll, könne später definiert werden.

Krethlow zufolge darf ein neuer Begriff kein Zungenbrecher wie «Umfassendes Verteidigungskonzept» oder «Resistance Operating Concept» werden. Aus diesem Grund habe der Vorstand der RK MZF den Begriff «Neue Gesamtverteidigung» postuliert. Krethlow zufolge sei auch der Begriff «Integrale Verteidigung» eine brauchbare Variante.

Auf die Frage des Appenzeller Landesfähnrichs und Präsidenten der RK MZF, Jakob Signer, was zu tun sei, damit aus einem Nebeneinander der verschiedenen sicherheitspolitischen Akteure ein Miteinander werden könne, meint Bühler, dass von einem Krieg die ganze Gesellschaft betroffen wird; nicht nur die Armee und die BORS, sondern auch die Wirtschaft, der grenzüberschreitende Verkehr und die internationalen Beziehungen. Es brauche daher ein «Miteinanderkonzept», ähnlich der «Gesamtverteidigung» im Kalten Krieg. Dies bedeute eine Neuausrichtung der Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen. Dabei sei der erste Schritt das Erkennen, die «Awareness».

Süssli meint zu Signers Frage, dass in der Schweiz in vielen Bereichen gut zusammengearbeitet werde. Allerdings traue man sich nicht an «undenkbare» Szenarien zu denken. So spiele in einem Krieg auch die «Geistige Landesverteidigung» eine Rolle. Dem stimmt Schärer zu und meint, die grössten Hürden bestünden deshalb, weil unser System für andere Situationen ausgerichtet sei als für den Krieg. Für neue Herausforderungen seien auch neue Szenarien anzunehmen. Fragen müssten gestellt werden, die Angst machen. Dazu zähle eben auch die Zusammenarbeit von Armee und BORS im Krieg. Mäder ergänzte, die Schweiz stehe grundsätzlich nicht schlecht da, wenn man beispielsweise die zivil-militärische Zusammenarbeit mit derjenigen in Deutschland vergleiche. Unsere grösste Herausforderung sei die strategische Führung. Unser System sei langsam, da stets alle Akteure und Staatsebenen einzubeziehen seien. Die Bewältigung einer grossen Krise oder rascher Veränderungen werde damit erschwert. Auch Gentinetta betont, dass eine Kriegsbedrohung in der Schweiz noch zu wenig erfasst sei. Es gelte, die Lehren aus der Covid-Krise für den Föderalismus neu durchzudenken und auf den Krieg anzuwenden.

Die Nidwaldner Regierungsrätin, Karin Kayser-Frutschi, fordert, dass die verschiedenen Akteure ihr Wissen weiter zusammenführen. Sie sieht darin eine zentrale Aufgabe des SEPOS. Mäder antwortet, dass dies mit der «Sicherheitspolitischen Strategie 2025» angegangen werde. Sie werde Ziele und Wege definieren und die relevanten Themen aufnehmen. Krethlow stellt fest, dass mit SEPOS eine neue Drehscheibe im Entstehen ist und verweist darauf, dass es mit dem SVS und seinen Plattformen bereits eine solche gebe. Martin von Muralt, der Delegierte des SVS, betont, dass hier keine Konkurrenz am Entstehen sei. Was die Schweiz betrifft, verweist er auf zwei Herausforderungen: die Auswirkung der hybriden Bedrohung auf sämtliche Staatsebenen und die Notwendigkeit, den Übergang der Verantwortung von den Kantonen zum Bund, von den BORS zur Armee zu definieren. Schärer betont die Herausforderung des Milizsystems, in dem zahlreiche Personen gleichzeitig Dienst in der Feuerwehr, im Gesundheitswesen und in der Armee leisten. Es sei noch nicht vollständig geklärt, welche personellen Mittel im Kriegsfall welchem sicherheitspolitischen Instrument tatsächlich zur Verfügung stehen.

In der Schlussrunde meint Bühler, die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Armee und BORS sei jetzt rasch anzugehen. Zudem haben die Führungsebenen nun die Verpflichtung, Entscheidungen mit dem Blick in die Zukunft zu treffen.

Süssli betont, das Krisenmanagement brauche nicht nur klar definierte Rollen, sondern auch definierte Prozesse. Zudem brauche es Mittel und das regelmässige, gemeinsame Üben an Szenarien, die bisher undenkbar waren, nun aber wieder denkbar werden müssen.

Gentinetta fordert, Konzept wie die «Sicherheitswochen an den Schulen» grundsätzlich weiterzudenken und andere Bevölkerungskreise mit einzubeziehen. Auch damit kann das Bewusstsein für die Bedrohungslage in der Bevölkerung gestärkt werden. Und anstelle des englischen Zungenbrechers könnte sich die Eidgenossenschaft auch als «Sicherheitsgenossenschaft» verstehen.

Schärer betont, dass das bestehende Verbundsystem Bevölkerungsschutz zu einem «Nationalen Verbundsystem» erweitert werden müsse, in dem alle Akteure ihre Rolle spielen.

Mäder meint abschliessend, so wie die Schweiz heute in sicherheitspolitischer Sicht aufgestellt sei, reiche dies nicht mehr. Die Verteidigungsfähigkeit sei nicht nur mittels der Armee, sondern auch mittels des nationalen Sicherheitsverbundes und internationaler Partnerschaften zu stärken.